Das Wunder der Weihnacht

Frieden und Harmonie sind die ureigensten Bedürfnisse der menschlichen Natur, egal wo und egal wann.

Es ist bitterkalt. Schlamm überall, teils gefroren. Erschöpfung macht sich bei den Soldaten auf beiden Seiten der Front breit. Es ist Dezember 1914 und die Hoffnung, zu Weihnachten wieder bei der Familie zu sein, stirbt.

Doch dann, an Heiligabend, geschieht das Unmögliche. An den meisten Frontabschnitten in Belgien und Frankreich sowie an anderen Gebieten zwischen Nordsee und Schweizer Grenze kehrt Ruhe ein und der Krieg macht Pause. Das Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht“ ertönt, die Briten stimmen ein „Silent Night“, Franzosen und Belgier schließen sich an „Douce nuit“.

Deutsche Soldaten entzünden Kerzen entlang der Schützengräben, die oft weniger als 100 Meter auseinanderliegen. Im sogenannten Niemandsland werden Weihnachtslieder und Hymnen gesungen, Gottesdienste abgehalten, gemeinsam wird die „Heilige Nacht“ gefeiert.

Ein bayerischer Soldat berichtet in einem Brief an seine Eltern: „Zwischen den Schützengräben stehen die verhassten und erbittertsten Gegner um den Christbaum und singen Weihnachtslieder. Diesen Anblick werde ich mein Leben lang nicht vergessen.“

Am ersten Weihnachtsfeiertag setzt sich der Weihnachtsfrieden fort, Briten und Deutsche spielen auf dem gefrorenen Acker Fußball oder schneiden sich gegenseitig die Haare. Geschenke werden getauscht.

Glaube, Hoffnung und Barmherzigkeit waren in diesen längst vergangenen Tagen die Werte, wodurch das Unmögliche möglich wurde, länderübergreifend. Geschichte wurde geschrieben.

Heute leben wir in friedlicheren Zeiten. Doch ähneln für manch einen das Weihnachtsfest und die damit einhergehenden Familienfeiern einem Minenfeld. Die Schlacht beginnt schon Anfang Dezember bei dem Kauf der Geschenke und endet meist erst am Zweiten Weihnachtsfeiertag in der Küche.

Zwischenzeitlich liegen gerne mal die Nerven blank und wir wünschen uns, das Familienfest wäre schon vorbei. Schade eigentlich! So ist doch oft die Rede von einer besinnlichen Weihnachtszeit, einem Fest der Liebe und Wertschätzung.

Was läuft verkehrt? Ist es das Streben nach einem perfekten Fest, es allen recht machen zu wollen? Oder ist es unsere mangelnde Toleranz anderen Familienmitgliedern gegenüber? Das Weihnachtsfest bietet viele Möglichkeiten, die eigenen Grenzen kennenzulernen und auch sie zu durchbrechen.

Missgeschicke leicht nehmen

Ein Anfang wäre, Missgeschicke leicht zu nehmen. Vor einigen Jahren trug ich gemeinsam mit meinem Vater den Weihnachtsbaum in die Wohnung. Zusammen stellten wir den Baum auf und schmückten ihn prächtig. Doch im Laufe des Abends, in der Heizungswärme, verströmte dieser Baum einen recht eigenwilligen Duft.

Wir rätselten hin und her. Letztlich fanden wir in Nachbars Katze den Übeltäter, die ihn wohl, während der Baum im Innenhof lagerte, markierte. Und es passierten noch andere Merkwürdigkeiten.

Alles war so herrlich unperfekt bis chaotisch und es ist genau dieses Fest, worüber ich noch heute lache, woran ich mich am liebsten erinnere. Sind es denn nicht genau diese schrägen Episoden, die uns noch Jahre später ein Lächeln ins Gesicht zaubern und in Erinnerung bleiben?

Tolerare

Toleranz leitet sich vom lateinischen Wort tolerare, „erdulden“ ab. Wie steht es also mit unserer Duldsamkeit, unserem Vermögen, Leid zu ertragen, zu erdulden? Dazu gehört auch, andere Meinungen oder Lebenseinstellungen zu tolerieren.

Wenn viele zusammenkommen, wird es bunt. Immanuel Kant bringt es auf den Punkt: „Lass doch einen jeden auf seinem Steckenpferde die Straßen der Stadt auf und nieder reiten, wenn er dich nur nicht nötigt, hinten aufzusetzen.“ Es lohnt sich, neugierig zu sein, Fragen zu stellen, einfach mal zuzuhören und nicht zu bewerten. So können ganz unerwartet bereichernde Gespräche entstehen.

Hier kann Regel Nr. 62 von Georg Washingtons „110 Regeln des Anstands und gegenseitigen Respekts in Gesellschaft und im Gespräch“ eine Richtschnur bieten: „Von traurigen Dingen rede nicht, wenn es heiter zugeht oder bei Tisch; von betrüblichen wie Tod und Wunden sprich nicht, und wenn andere davon sprechen, wechsle, wenn möglich, das Thema; deine Träume erzähle nur engen Freunden.“

Generell bleiben bei Festen Themen über Religion, Politik und Liebschaften besser unerwähnt.

Zu Tisch

Der Tisch ist ein Symbol für Gemeinschaft, für ein geselliges Beisammensein. Zusammen essen, trinken, reden, vielleicht streiten, sich wieder versöhnen und am Ende lachen. Jesus feierte das Abendmahl mit seinen Jüngern zu Tisch. Die auf gegnerischen Seiten stehenden Soldaten um 1914 verständigten sich teils mit Händen und Füßen beim gemeinsamen Essen und Trinken zu Tisch. Scheint doch nicht so schwer zu sein.

Wenn aber unvermutet ein Familienmitglied die vegetarische oder gar vegane Ernährung für sich entdeckt hat, könnte das für den eingefleischten Gastgeber, der voller Stolz seine Weihnachtsgans präsentiert, ein kleiner Schock sein. Doch aus eigener Erfahrung kann ich sagen, Klöße und Rotkraut tun es auch.

Die meisten Vegetarier oder Veganer essen doch von Natur aus nur die Beilagen. Und wer sich beschwert, der darf sich am oben genannten schönen Wort „tolerare“ üben; Toleranz ist keine Einbahnstraße. Denn eine weitere ungeschriebene Regel lautet: Ein guter Gastgeber ist für seine Gäste da und steht eben nicht die ganze Zeit in der Küche.

Brauchtum

Nachweislich wird das kirchliche Weihnachtsfest im Jahr 336 zum ersten Mal gefeiert und zum Brauchtum etabliert. In dem Wort Brauchtum steckt brauchen drin. Es ist also etwas, das Menschen brauchen, eine Orientierung mit symbolischem Charakter, die Gemeinschaft schafft und die die Werte an die nächste Generation vermittelt.

Die christlichen Symbolfarben für Weihnachten sind Grün und Rot. Die immergrünen Zweige der Fichte, Tanne oder Kiefer symbolisieren die unendliche Hoffnung, Fruchtbarkeit und Treue. Rot verkörpert das Blut Christi, das er vergossen hat, damit die Welt erlöst werde. Die vier Kerzen auf dem Adventskranz zeigen uns das Licht, das nach biblischer Überlieferung in der Finsternis leuchtet und uns Trost und Hoffnung schenkt.

Letztlich sind es keine teuren Geschenke oder das 5-Gänge-Menü, das uns zu Weihnachten berührt. Es ist die Gemeinschaft, die Herzenswärme und Geborgenheit, die wirklich wichtig sind und die wir brauchen. Wenn wir uns öffnen und nicht den Tisch als Schützengraben betrachten, können Wunder geschehen.

Ich wünsche Euch allen ein gesegnetes Weihnachtsfest!