Gold, Pech und Lebenslektionen
Beiträge . Kulturelles . TraditionellesGeschichten zu erzählen ist eine Tradition, so alt wie der Mensch selbst. Sie überwinden Kulturkreise und Ländergrenzen und haben die Kraft, uns zu verbinden. Ernstes wird mit Leichtigkeit und Humor vermittelt, und so können Geschichten unser Leben bereichern und uns in unserer Entwicklung voranbringen.
Weihnachtszeit ist Märchenzeit
Weihnachten ist für mich die Zeit, in der Märchen ihren ganz besonderen Zauber entfalten. An den Wochenenden gönne ich mir eine große Tasse heiße Schokolade, dazu Zimtsterne, Butterstollen oder Lebkuchen, und mache es mir auf der Couch gemütlich. Dann tauche ich ein in die Welt der Märchen, die mich seit meiner Kindheit begleiten. Auch wenn ich fast alle Geschichten in- und auswendig kenne, fesseln sie mich jedes Mal aufs Neue. Ich leide mit den Helden, freue mich über die Siege der Guten und verliere mich in den zeitlosen Botschaften. Für Märchen, davon bin ich überzeugt, ist man nie zu alt.
Frau Holle – eine Geschichte, die bleibt
Eines der Märchen, das für mich untrennbar mit der Weihnachtszeit verbunden ist, ist „Frau Holle“. Es ist eines der bekanntesten Werke der Gebrüder Grimm und erfreut sich besonders in der kalten Jahreszeit großer Beliebtheit.
Die Geschichte erzählt von zwei Schwestern: Die eine ist schön und fleißig, die andere eher reizlos und arbeitsscheu. Beide werden auf ihre Tugend und Reinheit des Herzens getestet. Am Ende erhalten sie ihre verdiente Belohnung – oder Bestrafung. Die Fleißige, die ihre Aufgaben stets mit Hingabe und Freundlichkeit erfüllt, wird mit Gold überschüttet. Ihre Schwester aber, die sich Arbeit und Mühe ersparen will, wird mit Pech übergossen. Es ist ein Märchen, das klar macht: Ohne Fleiß kein Preis.
Tugend und Karma
„Frau Holle“ vermittelt zahlreiche Werte und Lebensweisheiten. Eine davon ist der Grundsatz, dass Gutes mit Gutem und Schlechtes mit Schlechtem vergolten wird. Eine andere: Es gibt keine Abkürzungen im Leben. Wer seinen Weg geht, mit allen Prüfungen und Herausforderungen, wird am Ende belohnt.
Interessant ist der Bezug zum Buddhismus: Dort heißt es, dass unser Körper zwei unsichtbare Substanzen trägt. Die helle, Tugend, entsteht durch gute Taten und das Ertragen von Leid. Die dunkle, Karma, sammelt sich durch schlechte Taten an. In „Frau Holle“ werden diese Substanzen symbolisch durch Gold und Pech dargestellt.
Die Märchen der Gebrüder Grimm folgen diesem Prinzip oft: Gut und Böse sind klar zu erkennen, und am Ende siegt das Gute. Es gibt eine ausgleichende Gerechtigkeit. Im echten Leben, so scheint es, dauert dieser Ausgleich manchmal länger – oder wir sehen ihn erst am Ende unseres Lebens, wenn es zu spät ist, unsere Fehler wiedergutzumachen.
Die Märchen der Gebrüder Grimm
Jacob und Wilhelm Grimm schrieben 1812: „Kindermärchen werden erzählt, damit in ihrem reinen und milden Lichte die ersten Gedanken und Kräfte des Herzens aufwachen und wachsen; weil aber einen jeden ihre einfache Poesie erfreuen und ihre Wahrheit belehren kann, und weil sie beim Haus bleiben und sich forterben sollen, werden sie auch Hausmärchen genannt.“
Mit ihrer Sammlung „Kinder- und Hausmärchen“, die sie im romantischen Stil niederschrieben, erlangten die Brüder Weltruhm. Übersetzt in über 160 Sprachen und Dialekte, sind sie das weltweit meistgelesene Buch der deutschen Kulturgeschichte. Für die Grimms ging es nicht nur um Unterhaltung, sondern auch um die Bewahrung alten Volksguts und die Vermittlung von moralischen Werten. Sie selbst nannten ihre Märchensammlung ein „Erziehungsbuch“.
2005 wurden die „Kinder- und Hausmärchen“ von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe erklärt – eine Anerkennung, die ihre zeitlose Bedeutung unterstreicht.