Die Kunst des Müßiggangs: Mußestunden

Wir können die Zeit, unsere Lebenszeit, nicht anhalten, aber wir können sie mit schönen Momenten füllen und ausschöpfen.

„Ich habe jetzt keine Muße“ oder „mir ist langweilig“ sind heutzutage häufig gebrauchte Redewendungen und beide stehen in Bezug zur Zeit. Sind Müßiggang und Langeweile wirklich so schlecht wie ihr Ruf?

Jeder Mensch ist ausgestattet mit einem Schöpfergeist, mit Kreativität, Talent und Schaffensdrang. So können wir selbst unser Leben und unseren Alltag gestalten und ihnen Form geben. Natürlich brauchen wir kein Einstein, Goethe oder Gutenberg zu sein, es geht also nicht um die großen weltumspannenden Errungenschaften. Nehmen wir beispielsweise einen Tischler oder einen Bäcker oder ganz allgemein das gute alte Handwerk. Auch hier wird durch Talent, Fleiß und Wissen etwas erschaffen. Und diese von Hand hergestellten Gegenstände haben Seele, man spürt einen Unterschied zur konformen Fließbandproduktion.

An Ostern und zu Weihnachten basteln Freunde von mir zusammen mit ihren Kindern ganz zauberhafte Grußkarten. Meine Vorfreude und Neugier sind jedes Jahr ungebrochen und wenn ich dann das originelle Unikat in den Händen halte, freue ich mich über diese Würdigung. Denn mit selbst angefertigten Dingen wird auch immer Zeit verschenkt und die Zeit ist doch das kostbarste Gut, das wir besitzen. So ist es ja auch nicht verwunderlich, dass wir beständig danach streben, Zeit zu sparen und effizient zu sein. Gerade heutzutage sind die Grenzen zwischen Arbeit, Freizeit und Familie fließender geworden, der Wettbewerb herausfordernder. Zeitmanagement ist hier das Stichwort. Und was machen wir dann eigentlich mit der oftmals hart erkämpften, gewonnenen Zeit?

Consumere

Entdecken wir unsere schöpferische Muße, die ganz im Gegensatz zur mühevollen Arbeit steht oder lenken wir uns ab, verbrauchen und nicht gebrauchen unsere kostbare Zeit? Der Ablenkung oder Vergnügung, je nachdem, hat sich ein ganzer Industriezweig angenommen. Fernsehen, Computerspiele oder Social Media sind ein beliebter Zeitvertreib. Doch ist die Befriedigung nur oberflächlich, flüchtig und erfüllt uns nicht. „Erkenne dich selbst“ stand einst über dem Orakel zu Delphi und diese Aufforderung war ebenso der Leitgedanke der antiken Philosophie. Wie und mit welchen Tätigkeiten können wir also die Qualität unserer freien Zeit erhöhen, uns selbst entdecken und erkennen? Neues und vielleicht auch Spannendes erleben wir nur, wenn wir bereit sind, uns zu öffnen und neue Pfade zu beschreiten.

In der Ruhe liegt die Kraft

Zwischen To-do-Listen und Reizüberflutung lässt sich jedoch nur schwerlich der Weg zur Selbsterkenntnis nehmen. Hierfür benötigen wir die Muße oder auch den Müßiggang. Es bezeichnet die durch Zeitmanagement gewonnene freie Zeit, gepaart mit innerer Ruhe und der Möglichkeit, nun die eigenen Interessen und Talente zu entdecken und zu entfalten. Bei dem Klang des Wortes „Freizeit“ möge sich der Workaholic vielleicht schon überfordert fühlen und meinen, gegensteuern zu müssen. Denn oftmals wird das heutzutage eher negativ belastete Wort „Langeweile“ mit der freien Zeit in Verbindung gebracht. Aber entsteht denn nicht gerade aus dem Leerlauf, also der Langeweile, Ideen und Beschäftigungen, die wir sonst nicht wahrgenommen hätten? Eine Reise in die Vergangenheit, zu den kreativen Größen, kann dabei eine neue Perspektive bieten und vielleicht auch ermutigen und inspirieren.

Weimarer Musenhof

Der wohl bekannteste Musenhof fand sich um 1800 regelmäßig in und rund um Weimar zur gepflegten und geistreichen Geselligkeit ein. So versammelte Anna Amalia von Sachsen-Weimar-Eisenach kulturell Interessierte aus verschiedenen Kreisen um sich. Adlige sowie Bürgerliche, Hofleute, Staatsdiener, Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler tauschten sich über gemeinsam gelesene Bücher, aktuelle Theaterstücke und die musikalischen Ereignisse der Saison aus. Es wurde miteinander diskutiert, debattiert und sich inspiriert.

Die vermutlich prominenteste Inspirationsquelle dieser Zeit war Charlotte von Stein. Sie war Hofdame der Herzogin Anna Amalia und enge Freundin und Muse von Johann Wolfgang von Goethe. Mit Anmut und ihrer natürlichen Wesensart soll sie nicht nur Goethe, sondern auch Johann Gottfried von Herder und Friedrich von Schiller in ihrem künstlerischen Schaffen beeinflusst haben. Doch was ist eigentlich das Musenhafte an der Muse? Es ist das Interesse, die aufrichtige Anteilnahme am schöpferischen Wirken des Künstlers.

Von der Muse geküsst

In der griechischen Mythologie sind die Musen Schutzgöttinnen der Künste und Geschöpfe der göttlichen Inspirationsquelle. In der Antike vertrat man die Vorstellung, dass die Inspiration nicht vom eigenen Selbst, sondern von Göttern oder eben den Musen von außen eingegeben werden. So gesellen sich diese neun Quellnymphen, von Zeus und Mnemosyne gezeugt, um Apoll, den Gott der schönen Künste und werden von ihm geleitet. Jede der neun Musen war für die wichtigsten der menschlichen Künste zuständig und hatte somit ihr eigenes Spezialgebiet.

So ist Kalliope die Muse der epischen Dichtung und Mutter des Sängers Orpheus, Kleio die Muse der Geschichtsschreibung und des Heldenliedes, Terpsichore die Muse des Tanzes und Urania die Muse der Wissenschaft, insbesondere der Sternenkunde. Dann wären da noch Melpomene die Muse der Tragödiendichtung, Thaleia die Muse der Komödiendichtung, Euterpe die Muse des Flötenspiels, Erato die Muse der Liebeslyrik und Polyhymnia, die Muse der Musik und der Hymnendichtung.

Zauberwort Entschleunigung

Auch heutzutage werden reale Personen als Musen bezeichnet, die durch ihr Wesen und ihre Ausstrahlung inspirieren. Natürlich brauchen wir nicht zu warten, bis ein solches Geschöpf an der Tür klingelt und um Einlass bittet. Es gibt viele Möglichkeiten, die ruhelosen Gedanken zu zähmen und zu sich selbst zu kommen, um dann vielleicht sogar die eigene, bislang verborgene kreative Ader zu entdecken. Zum Beispiel Spazierengehen, ohne Ziel, einfach so, langsam und bedächtig.

Mark Twain schreibt in Die Abenteuer von Tom Sawyer: „Im Leben eines jeden recht gestrickten Jungen kommt die Zeit, in der er eine drängende Sehnsucht verspürt, loszuziehen und nach verborgenen Schätzen zu graben.“

Es gibt so viel zu entdecken. Wenn wir bereit dazu sind, unseren Blickwinkel zu verändern und neue Wege zu beschreiten, finden wir verborgene Schätze oder ungenutzte Möglichkeiten auch in uns selbst. So können wir die Zeit, die uns gegeben wurde, mit echtem Leben füllen.

 

Dieser Artikel von mir erschien erstmals in der Printausgabe der Epoch Times.