Hildegard von Bingen: Gottes Botschafterin

Die Sehnsucht nach Heil und Heilung in einer Welt, in der Freud und Leid dicht beieinanderliegen, beschäftigten damals wie heute die Menschen. Wie lässt sich die Welt deuten und erklären? Worin besteht der Menschen Daseinszweck? Was ist wahres Glück und wie ist es zu erreichen? Wie mit Schwierigkeiten umgehen? Und letztlich: Wer ist Gott und wie teilt er sich uns mit? Hildegard von Bingen greift in ihren Werken all diese Fragen auf. Als Botschafterin zeigt sie Möglichkeiten, die himmlische Harmonie in der irdischen Welt wahrzunehmen.

„Jemand wollte ein Loch graben. Doch als er mit einem Holz- und einem Eisenwerkzeug grub, entsprang einem Stein, auf den er stieß, Feuer, sodass man diese Stelle auf keine Weise durchbohren konnte. Da machte er die Größe dieser Stelle kenntlich und bohrte dort mit großer Anstrengung trotzdem einige Löcher. Und dieser Mann sprach zu sich: Ich habe mich sehr abgeplagt, doch der nach mir kommt, wird leichtere Arbeit haben, denn er findet alles für sich bereit.- Natürlich wird dieser Mann von seinem Herrn gelobt werden, denn sein Werk ist an Größe und Ausdauer viel nutzbringender als die Arbeit an lockerer Erde, die vom Flug umgewendet wird. So wird ihn auch sein Herr für einen ganz starken Streiter erachten, der sein Heer bestens unterstützen kann. Und er wird ihn über die andern Bauern stellen, die zu gegebener Zeit den Ertrag abliefern. Denn wer immer sich zuerst mühte, übertrifft die Arbeit dessen, der ihm folgt. Der Schöpfer der Welt begann nämlich zuerst zu schaffen, und danach ließ er seine Diener in seinem Sinn arbeiten.“ Mit der Fabel vom weisen Mann antwortet Hildegard Äbtissin von Dietkirchen, die sich auf der Suche nach Rat und „ein paar Mahnworte, die meine Seele erbauen und mir Vertrauen auf Gott einflößen sollen“ an sie wendet.

Hildegard von Bingen wurde 1098 als zehntes Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim und dessen Ehefrau Mechthild geboren. Mit acht Jahren gaben die Eltern das kluge, aber kränkliche Kind in das Benediktinerkloster auf den Disibodenberg. Dem Mönchskloster war eine Frauenklause angegliedert, dass der „Meisterin“ Jutta von Sponheim unterstand. Sie übernahm die Betreuung des Mädchens und erzog Hildegard in Demut und Herzensreinheit, unterwies sie in den Gesängen Davids und lehrte sie das Singen der Psalmen. Nach dem Tode Juttas wählten die Nonnen die kaum 38-jährige Hildegard um 1136 zur Nachfolgerin und geistlichen Mutter. Hildegard lebte insgesamt 44 Jahre auf dem Disibodenberg, ehe sie um 1150 in das von ihr gegründete Kloster auf dem Rupertsberg an der Nahe, Bingen gegenüber, einzog.

Diskretiver Führungsstil

„Discretio“ bezeichnet die benediktinische Lebensform und geht auf den hl. Benedikt zurück. Sie steht für eine umsichtige Balance in der Lebensführung, für das weise Maßhalten und die kluge Unterscheidungskraft. Hildegard wählt die Klosterregel als Richtschnur für ihr eigenes Leben sowie für die Gemeinschaft. Die Äbtissin erkannte in „discretio“ die Schlüsselkompetenz für Führungspositionen. Denn Aufgabe des Anführers sei vor allem, die unterschiedlichsten Menschen mit ihren Veranlagungen und Temperamenten, Begabungen und Schwächen zu einer Gemeinschaft zu formen. So stelle „discretio“ eine fördernde Kraft dar, die das Zusammenleben und das Zusammenwirken verschiedener Menschen ermöglicht.

Bittsteller ermahnt sie, sich als erstes um sich selbst zu kümmern und die eigene Mitte zu finden – aufmerksam und achtsam zu sein, weder andere noch sich selbst zu über- oder unterfordern.

Auf Augenhöhe mit den Großen der Welt – „Die Prophetin vom Rhein“

Schnell verbreitete sich Hildegards Ruhm über ganz Europa und so stand sie mit den bedeutendsten Persönlichkeiten des Abendlandes in Briefkontakt. Einer von ihnen war Kaiser Friedrich Barbarossa, seinerzeit mächtigste Figur im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Ihm führt Hildegard die Pflichten eines gerechten Herrschers vor Augen und scheut auch nicht vor scharfer Kritik zurück: „in der mystischen Schau sehe ich, wie du dich wie ein Kind verhältst und gleichsam ein Verrückter“ und „achte darauf, so zu sein, damit die Gnade Gottes in dir nicht erlahmt“.

Hildegard berät also nicht nur geistliche Frauen, sondern pflegte Kontakte zu männlichen weltlichen Herrschern sowie dessen Gemahlinnen, zu Päpsten und Prälaten. Wer Trost, Rat, Belehrung und Ermahnung bei ihr suchte, erhielt Antwort. Ihr lateinischer Wortschatz war begrenzt, aber lebendig und deutlich. Sie selbst nannte sich „indocta“ (ungelehrt), da sie keinen systematischen wissenschaftlichen Unterricht erhalten hatte. Trotzdem korrespondierte die Nonne immer mutig und auf Augenhöhe mit den Großen in dieser von Männern beherrschten mittelalterlichen Welt. Insgesamt 390 Briefe sind als Sammlung überliefert.

Tugenden als Leiter in den Himmel

„Rede also von diesen wunderbaren Dingen, und schreibe sie, auf diese Weise belehrt, nieder und berichte sie!“, hörte Hildegard eine Stimme, die vom Himmel zu ihr sprach. Seit ihrem fünften Lebensjahr erlebte Hildegard „das Geheimnis verborgener, wunderbarer Schauungen“, tat es jedoch „keinem Menschen kund mit Ausnahme einiger weniger Ordensleute“. Doch als Hildegard im Jahre 1141, ihrem 42. Lebensjahr von einem „feurigen Licht mit stärksten Leuchten, das aus dem offenen Himmel kam“ durchströmt wurde und diese Aufforderung erhielt, fing sie an, ihre Visionen niederzuschreiben.

„Die Visionen aber, die ich schaute, habe ich weder in Träumen noch schlafend noch in Geistesverwirrung noch mit den leiblichen Ohren des äußeren Menschen noch an verborgenen Orten wahrgenommen, sondern ich empfing sie wachend und umsichtig bei klarem Verstand mit den Augen und Ohren des inneren Menschen an zugänglichen Orten nach dem Willen Gottes.“ So schildert Hildegard ihre Visionserfahrungen zu Beginn von „Scivias“.

Insgesamt 26 Visionen fasst sie in drei Werken zusammen: „Wisse die Wege“, „Das Buch der Lebensverdienste“, „Das Buch vom Wirken Gottes“. Die Seherin beschreibt den Kosmos als Kunstwerk Gottes und den Menschen, der stets aufgerufen ist, sich zwischen Gut und Böse zu entscheiden, verortet sie in der Mitte. Von Gestalt eher klein, aber groß durch die Kraft seiner Seele, sei der Mensch mächtigster als die übrigen Geschöpfe.

„Ist doch der Mensch das volle Werk Gottes. Auf diese Weise beherrscht der Mensch die gesamte Schöpfung, denn er ist mehr als alle Kreatur.“ Hildegard beschreibt die Wege zu Gott, wie der Mensch sein Leben zu Gott hin auszurichten vermag. Dabei helfen ihm die Tugenden, die Gott den Menschen schenkte, um ihn zu ermutigen, zu ermahnen und ihm den Weg zum Himmel zu weisen. Ihre eigene Lebenserfahrung schildert sie in einem Brief an ihre Nonnenschwestern. Demzufolge „gewinnt der Mensch das höchste Wissen unter der Last der Härte, die von dem kommt, was schädlich ist, und so erkennt er, was Gut und Böse ist, und so kann er allem einen Namen geben“.

„Physica“ – Heilkraft der Natur

Hildegard lebt auf fruchtbaren Boden am Flussufer, umgeben von grünen Wäldern und in einer Region, die reich an Edelsteinminen ist. So kann sie intensiv die Elemente beobachten und ihre tieferen Lehren erfassen. Sie nimmt die Schöpfung als Geschenk Gottes an den Menschen wahr, in der alles seinen Platz, seine Ordnung hat. Die umfangreiche wissenschaftliche und medizinische Enzyklopädie, genannt „Physica“, enthält ihre umfassende Pflanzen-, Tier- und Gesteinskunde.

Harmonie in Körper und Geist

Krankheit verstand die Gelehrte als Unordnung im Körper und so ging es ihr beim Heilungsprozess darum, das Gleichgewicht wiederherzustellen. Die Ernährung nahm hierbei eine wesentliche Rolle ein, gehören doch Körper und Geist zusammen.

„Wenn nämlich ein Mensch seinen Leib maßvoll nähert, hat er einen sanftmütigen und frohen Charakter. Lebt er aber im Übermaß an Speisen und Gelagen, dann lässt er jedwedes schädliche Laster in sich wuchern. Wer dagegen durch maßlose Abstinenz seinen Leib aufreibt, kommt immer zornig daher.“

Neben den inneren „Säften“, die jeweils durch verschiedene Nährstoffe ausgeglichen werden sollen, gibt Hildegard ganz allgemeine Tipps zur richtigen Ernährungsweise. Beispielsweise empfiehlt sie zum Frühstück ein warmes Mahl aus Feldfrüchten und Mehl, „damit es seinen Magen-Darm anheizt“. Nach dem Essen sollte der Mensch „nicht sogleich schlafen, ehe nicht die Geschmacksstoffe und die arteigenen Saftstoffe samt den Duftstoff an die Stellen gelangten, für die sie bestimmt sind“. Dinkel ist für Hildegard das Wundergetreide schlechthin. Uneingeschränkt empfiehlt sie den täglichen Verzehr der Weizen-Unterart und so lassen sich für alle Mahlzeiten Dinkelrezepte bei ihr finden.

Krankheit als „kreative Auszeit“

Hildegard war ihr ganzes Leben lang von Krankheiten geplagt. Ihre Erkrankung deutet sie allerdings nie als Folge ihrer großen Anstrengungen. Sie bezog sich auf die Offenbarung, die dem hl. Paulus zuteilgeworden war: Um Hochmut und Überheblichkeit vorzubeugen, wurde ihr wie auch dem Apostel ein „Stachel ins Fleisch“ gegeben, der sie ihrer Gebrechlichkeit gemahnte (2. Korintherbrief 12,7). So ertrug sie demütig ihre Leiden, die ihr zugleich als „kreative Auszeit“ dienten. Denn die Phasen der gesundheitlichen Einschränkung nutzte Hildegard als Vorbereitung auf ihre nächste Aufgabe.

Die wohl größte Mystikerin Deutschlands starb am 17. September 1179 im stolzen Alter von 81 Jahren, trotz ihrer schwachen Gesundheit. Sie hinterließ ein Lebenswerk, das in ihrem Umfang und ihrer Qualität einzigartig ist. Neben den Visionsschriften, den Schriften über Natur-und Heilkunde, komponierte und textete sie 77 Gesänge. Schon zu ihren Lebzeiten waren die Menschen überzeugt, dass in Hildegards Leben das wunderbare Wirken Gottes zum Ausdruck kommt. Obwohl sie schon lange als Heilige verehrt wurde, erfolgte ihre Erhebung zur Kirchenlehrerin, zur Heiligen, erst am 10. Mai 2012 durch Papst Benedikt XVI.