Hildegard von Bingen: Visionärin zwischen Himmel und Erde
Beiträge . Helden und VorbilderDie Sehnsucht nach Heilung und Erlösung war schon immer tief in den Menschen verwurzelt, damals wie heute. Fragen nach dem Sinn des Lebens, dem wahren Glück und dem Platz des Menschen in der Schöpfung begleiten die Menschheit seit jeher. Doch wer kann diese Fragen beantworten? Wer zeigt uns den Weg durch die Dunkelheit? Und letztlich: Wer ist Gott und wie teilt er sich uns mit?
Eine Frau im 12. Jahrhundert erhob ihre Stimme, um genau diesen Fragen nachzuspüren: Hildegard von Bingen, eine Seherin und Heilerin, deren Weisheit und Erkenntnis weit über die Klostermauern hinaus strahlte. Ihre Werke sind eine Botschaft der himmlischen Harmonie, die in die irdische Welt hinabstrahlt.
„Jemand wollte ein Loch graben. Doch als er mit einem Holz- und einem Eisenwerkzeug grub, entsprang einem Stein, auf den er stieß, Feuer, sodass man diese Stelle auf keine Weise durchbohren konnte. Da machte er die Größe dieser Stelle kenntlich und bohrte dort mit großer Anstrengung trotzdem einige Löcher. Und dieser Mann sprach zu sich: Ich habe mich sehr abgeplagt, doch der nach mir kommt, wird leichtere Arbeit haben, denn er findet alles für sich bereit.- Natürlich wird dieser Mann von seinem Herrn gelobt werden, denn sein Werk ist an Größe und Ausdauer viel nutzbringender als die Arbeit an lockerer Erde, die vom Flug umgewendet wird. So wird ihn auch sein Herr für einen ganz starken Streiter erachten, der sein Heer bestens unterstützen kann. Und er wird ihn über die andern Bauern stellen, die zu gegebener Zeit den Ertrag abliefern. Denn wer immer sich zuerst mühte, übertrifft die Arbeit dessen, der ihm folgt. Der Schöpfer der Welt begann nämlich zuerst zu schaffen, und danach ließ er seine Diener in seinem Sinn arbeiten.“
Mit der Fabel vom weisen Mann antwortet Hildegard Äbtissin von Dietkirchen, die sich auf der Suche nach Rat und „ein paar Mahnworte, die meine Seele erbauen und mir Vertrauen auf Gott einflößen sollen“ an sie wendet.
Von einem kränklichen Kind zur geistlichen Mutter
Hildegard wurde 1098 als zehntes Kind des Edelfreien Hildebert von Bermersheim geboren. Schon früh erkannte ihre Familie, dass sie ein besonderes Kind war, doch ihre Kindheit war von Krankheit geprägt. Als sie acht Jahre alt war, gaben ihre Eltern das schwache, aber kluge Mädchen in die Obhut des Benediktinerklosters Disibodenberg. Dort fand sie in Jutta von Sponheim eine strenge, aber weise Mentorin, die Hildegard in den Psalmen und dem Gesang unterrichtete.
Hildegard lebte 44 Jahre lang in dieser geistlichen Gemeinschaft, bis sie 1150 schließlich ein eigenes Kloster gründete – den Rupertsberg, in der Nähe von Bingen. Ihre Visionen, die sie seit ihrer Kindheit begleiteten, machten sie zur gefragten Ratgeberin für Könige, Päpste und Kaiser.
Diskreter Führungsstil – Die Weisheit der „Discretio“
Die benediktinische Lebensform, die auf den heiligen Benedikt zurückgeht, war von einem Prinzip geprägt, das Hildegard als essenziell für ihr Leben und ihre Führung betrachtete: „Discretio“. Dieses Wort steht für die kluge Balance im Leben, für maßvolles Handeln und die Fähigkeit, zwischen den richtigen Wegen zu unterscheiden.
Für Hildegard war die Klosterregel, die auf dieser Weisheit basierte, nicht nur eine Richtschnur für ihr eigenes Leben, sondern auch ein Fundament für die gesamte klösterliche Gemeinschaft.
Als Äbtissin erkannte Hildegard, dass „discretio“ die Schlüsselkompetenz für jede Führungsposition sei. Die Aufgabe eines Anführers bestand für sie darin, Menschen mit ihren unterschiedlichen Begabungen, Temperamenten und Schwächen zu einer harmonischen Gemeinschaft zu formen. Diese Balance, so Hildegard, war die treibende Kraft, die das Zusammenleben und das Zusammenwirken verschiedener Menschen überhaupt erst möglich machte.
Sie ermahnte diejenigen, die Rat bei ihr suchten, zuerst in sich selbst die Balance zu finden und ihre innere Mitte zu bewahren: „Seid aufmerksam und achtsam“, warnte sie, „weder andere noch sich selbst darf man über- oder unterfordern.“
Auf Augenhöhe mit den Großen der Welt – „Die Prophetin vom Rhein“
Schon bald verbreitete sich Hildegards Ruf weit über die Grenzen ihres Klosters hinaus. Ihre Schriften und Visionen erreichten Könige und Kaiser, darunter Friedrich Barbarossa, den mächtigsten Herrscher des Heiligen Römischen Reiches. In einem ihrer berühmtesten Briefe scheut sie sich nicht, dem Kaiser seine Fehler direkt vor Augen zu führen: „In der mystischen Schau sehe ich, wie du dich wie ein Kind verhältst und gleichsam wie ein Verrückter“ und „Achte darauf, so zu sein, dass die Gnade Gottes in dir nicht erlahmt.“
Diese Worte zeigen die mutige Stimme einer Frau, die in einer von Männern dominierten Welt nicht nur mit Weisheit, sondern auch mit unerschütterlicher Überzeugung sprach. Insgesamt 390 Briefe sind erhalten, in denen Hildegard sowohl Herrscher als auch einfache Gläubige beriet – oft in Latein, obwohl sie sich selbst als „indocta“ (ungelehrt) bezeichnete. Doch ihr Mut und ihre Klarheit machten sie zu einer gefragten Ratgeberin.
Tugenden als Wegweiser zum Himmel
„Rede also von diesen wunderbaren Dingen, und schreibe sie, auf diese Weise belehrt, nieder und berichte sie!“, hörte Hildegard eine Stimme vom Himmel, die sie anwies, ihre Visionen niederzuschreiben. Seit ihrem fünften Lebensjahr hatte sie „das Geheimnis verborgener, wunderbarer Schauungen“ erfahren, doch sie teilte sie nur mit wenigen Vertrauten. Erst im Jahr 1141, im Alter von 42 Jahren, wurde sie von einem „feurigen Licht mit stärksten Leuchten, das aus dem offenen Himmel kam“ durchströmt, und begann daraufhin, ihre Visionen niederzuschreiben.
„Die Visionen aber, die ich schaute, habe ich weder in Träumen noch schlafend noch in Geistesverwirrung noch mit den leiblichen Ohren des äußeren Menschen noch an verborgenen Orten wahrgenommen, sondern ich empfing sie wachend und umsichtig bei klarem Verstand mit den Augen und Ohren des inneren Menschen an zugänglichen Orten nach dem Willen Gottes.“ So schildert Hildegard ihre Erlebnisse in ihrem Werk Scivias.
Insgesamt verfasste sie 26 Visionen in drei Hauptwerken: Scivias, Das Buch der Lebensverdienste und Das Buch vom Wirken Gottes. Für Hildegard war der Mensch das „vollkommene Werk Gottes“ und zugleich derjenige, der zwischen Gut und Böse entscheiden muss. Die Tugenden, so lehrte sie, seien Gottes Geschenk an die Menschen, um ihnen den Weg zum Himmel zu weisen. „Ist doch der Mensch das volle Werk Gottes. Auf diese Weise beherrscht der Mensch die gesamte Schöpfung, denn er ist mehr als alle Kreatur.“
Ihre eigene Lebenserfahrung schildert sie in einem Brief an ihre Nonnenschwestern. Demzufolge „gewinnt der Mensch das höchste Wissen unter der Last der Härte, die von dem kommt, was schädlich ist, und so erkennt er, was Gut und Böse ist, und so kann er allem einen Namen geben“.
„Physica“ – Die Heilkraft der Natur
Hildegard von Bingen lebte inmitten einer fruchtbaren Landschaft, nahe am Fluss, umgeben von üppigen Wäldern und in einer Region, die für ihre Edelsteinvorkommen bekannt war. Diese natürliche Umgebung ermöglichte es ihr, die Elemente der Natur genau zu beobachten und tiefere Einsichten zu gewinnen.
Sie betrachtete die Schöpfung als ein Geschenk Gottes an die Menschheit, in dem alles seinen Platz und seine Ordnung hat. Diese Überzeugung spiegelte sich in ihrer umfangreichen wissenschaftlichen und medizinischen Enzyklopädie „Physica“ wider, die umfassende Kenntnisse über Pflanzen, Tiere und Mineralien enthält.
Harmonie von Körper und Geist
Für Hildegard war Krankheit Ausdruck einer Unordnung im Körper. Sie sah es als ihre Aufgabe, das Gleichgewicht wiederherzustellen, wobei die richtige Ernährung eine zentrale Rolle spielte – denn für sie waren Körper und Geist untrennbar miteinander verbunden.
„Wenn nämlich ein Mensch seinen Leib maßvoll nähert, hat er einen sanftmütigen und frohen Charakter. Lebt er aber im Übermaß an Speisen und Gelagen, dann lässt er jedwedes schädliche Laster in sich wuchern. Wer dagegen durch maßlose Abstinenz seinen Leib aufreibt, kommt immer zornig daher.“
Hildegard ging davon aus, dass die inneren „Säfte“ des Körpers durch verschiedene Nährstoffe ausgeglichen werden müssen, um die Harmonie zu bewahren. Sie gab zudem allgemeine Ratschläge zur richtigen Ernährungsweise. S
o empfahl sie beispielsweise ein warmes Frühstück aus Feldfrüchten und Mehl, „damit es seinen Magen-Darm anheizt“. Nach dem Essen sollte man „nicht sogleich schlafen, ehe nicht die Geschmacksstoffe und die arteigenen Saftstoffe samt den Duftstoff an die Stellen gelangten, für die sie bestimmt sind“. Dinkel bezeichnete Hildegard als das „Wundergetreide“. Uneingeschränkt empfahl sie dessen täglichen Verzehr, und für jede Mahlzeit findet man bei ihr passende Dinkelrezepte.
Krankheit als „kreative Auszeit“
Trotz ihrer schwachen Gesundheit war Hildegard zeitlebens eine unermüdliche Arbeiterin. Sie litt häufig an Krankheiten, doch sie betrachtete ihre Leiden nie als bloße Schwäche. Wie der Apostel Paulus erkannte auch sie in ihrem Leiden eine Prüfung Gottes. In einem Brief schreibt sie: „Um Hochmut und Überheblichkeit vorzubeugen, wurde mir wie auch dem Apostel ein ‚Stachel ins Fleisch‘ gegeben, der mich meiner Gebrechlichkeit mahnt.“
Statt sich von ihrer Krankheit lähmen zu lassen, nutzte Hildegard diese Phasen als „kreative Auszeit“, um sich auf ihre nächste Aufgabe vorzubereiten. Diese Zeiten der körperlichen Schwäche halfen ihr, sich geistig zu stärken und ihre Visionen weiterzuentwickeln.
Ein Erbe für die Ewigkeit
Hildegard von Bingen starb am 17. September 1179 im Alter von 81 Jahren. Trotz ihrer körperlichen Schwäche hinterließ sie ein gewaltiges Werk, das bis heute einzigartig in Umfang und Qualität ist. Neben ihren Visionen und naturkundlichen Schriften hinterließ sie 77 Kompositionen – ein Zeugnis ihrer spirituellen und künstlerischen Kraft.
Schon zu ihren Lebzeiten galt Hildegard als Heilige, und viele Menschen waren überzeugt, dass sie ein Werkzeug Gottes auf Erden war. Doch erst 2012, fast 900 Jahre nach ihrem Tod, wurde sie von Papst Benedikt XVI. zur Kirchenlehrerin und Heiligen erhoben – eine der wenigen Frauen, die diese Ehre erhalten haben.
Ihr Erbe bleibt lebendig: Ihre Schriften und Kompositionen inspirieren weiterhin Generationen, ihre Lehren über Heilung und spirituelle Gesundheit sind heute ebenso aktuell wie damals. Hildegard von Bingen war nicht nur eine Mystikerin, sondern eine Pionierin ihrer Zeit – eine Frau, deren Weisheit und spirituelle Visionen die Grenzen ihres Klosters weit überschritten und die Welt nachhaltig geprägt haben.