Walther von der Vogelweide: Tugendhaftigkeit zahlt sich aus

Der singende Berichterstatter gilt als der bedeutendste deutschsprachige Lyriker des Mittelalters. An den Höfen von Kaisern, Königen und Fürsten war er zu Gast – trotzdem hatten seine Reisen mit den Erfolgstourneen berühmter Künstler unseres Jahrhunderts wenig gemeinsam.

Die bitterkalte Nacht war vorüber. Reif hatte den hart gefrorenen Boden überzogen und krachte unter jedem Fußtritt. Ein einsamer Reiter zog frierend die Schultern hoch. Den Hut tief in die Stirn gedrückt, das Wams an vielen Stellen geflickt, die Schuhe abgetragen und der Ackergaul, auf dem diese traurige Gestalt saß, war schwer und behäbig. Das beste Stück, das er mit sich führte, war die Laute. Sie hing neben dem linken Bein des Reiters, war aus tadellosem Holz geschnitzt und mit frischen Saiten bespannt.

Ein Mann, mit Pfeil und Bogen auf dem Rücken und zwei prächtigen Fuchsbälgen in den Händen, näherte sich dem fremden Reiter und rief: „Was sagt ihr dazu, Herr! Daraus lässt sich ein warmer Pelzmantel machen!“ Wehmütig strich der Reiter über das weiche Fell der Füchse und fragte nach dem Preis. Abschätzend, fast mitleidig maß der Jäger Mann und Pferd. „Für euch, Herr: drei Solidi. Sehr billig!“ Seufzend ließ der Sänger die Füchse wieder los.

Da erblickten beide in einigen Hundert Metern Entfernung einen sich nähernden Reitertrupp. „Irre ich mich …?“, rief der betuchte Reiter und sein Blick ruhte auf dem fahrenden Sänger. „Herr Bischof von Passau“, sagte dieser. „Ihr irrt Euch nicht!“ Da rief der Kirchenfürst: „Also doch! Walther von der Vogelweide! Was treibt Ihr?“ Wehmütig schildert der Sänger, dass am Hofe Herzog Leopolds kein Platz mehr für ihn sei und wie ungern er Österreich verlassen müsse, um in die Fremde zu ziehen.

„Habt Ihr keinen Wintermantel, Herr Walther?“, fragt der Bischof. „Je weniger man mit sich führt, desto leichter reist es sich“, versuchte dieser zu scherzen. „Damit dürft Ihr nicht spaßen, Herr Walther!“ Nun trat der Jäger abermals hervor und pries seine Fuchsbälge an. Da wies der Bischof seinen Sekretarius an, fünf Solidi aus der Reisekasse an den Sänger auszuzahlen. So verzeichnete der Schreiber des Bischofs Wolfger von Passau, er habe auf Befehl seines Herrn im Orte Zeiselmauer bei Tulln dem Sänger Walther von der Vogelweide fünf Solidi ausbezahlt, damit sich dieser einen warmen Wintermantel kaufen könne. Es war der 12. November 1203.

Über die Tugend des Herzens

So wie Walther von der Vogelweide reisten in jener Zeit auch andere singende Berichterstatter von Hof zu Hof und verdienten sich so ihr täglich Brot. So gelangten Lyrik und Literatur im deutschsprachigen Raum um das Jahr 1200 zu einem Höhepunkt.

Drei lyrische Typen waren zu dieser Zeit vertreten: der Minnesang als Inbegriff der Liebesdichtung, die Sangspruchdichtung mit ihrer politischen Orientierung und die Leichdichtung mit religiösem Kern. In allen drei Gattungen der Lyrik erschuf Walther von der Vogelweide herausragende Werke. Über 100 Texte sind von ihm überliefert. Als seine bekanntesten Werke gelten „Under der linden“, „Saget mir ieman: waz ist minne“ und der „Reichston“ ein politisches Großgedicht.

Walther von der Vogelweide lebte schätzungsweise von 1170 bis 1230. Sein Lebensweg lässt sich nur anhand seiner Werke und denen seiner Kollegen, die ihn in ihren Dichtungen lobend erwähnen und somit verewigten, rekonstruieren. Er galt als vielseitiger und kluger Berichterstatter.

Freilich verstand er es, Liebeslieder zu singen und den Damen Komplimente zu machen. Doch geistige Vorzüge, weibliche Anmut und Liebenswürdigkeit schätze er höher als die vergängliche Schönheit. Die Tugend als eine Eigenschaft des Herzens, die nicht aus einer einzigen Tat bestehe, übertreffe seiner Meinung nach alles. Denn wie es im Herzen aussehe, darauf komme es an.

Als die größte Tapferkeit preist Walther die Selbstbeherrschung. Insbesondere vor Trunksucht und dem Missbrauch der Zunge warnt er. Der brave Mann erkenne fremden Verdienst gerne an und halte sich von Neid und Hass fern. Reumütig bekennt der Dichter jedoch, seinen Feind nicht lieben zu können, wie es die christliche Lehre fordert. „wie solt ich den geminnen der mir übele tuot?“ („Wie soll ich den lieben können, der mir Übles tut?“)

Gottes Huld, Ehre und Gut

Sinnierend auf einem Stein sitzend, kostbar und bunt eingekleidet, mit einer Krone auf dem Kopf, ist der Dichter in den mittelalterlichen Liedersammlungen abgebildet. So vergisst man leicht, dass er ein Mensch war, der nicht nur kritisch die Missstände seiner Zeit beleuchtete, sondern sie auch am eigenen Leibe spürte:

„Keinen Rat wusste ich zu geben, wie man drei Schätze erlangen könnte, ohne dass einer von ihnen verlorenginge. Zwei von denen sind Ansehen und vergänglicher Besitz, Gnade bei Gott ist der dritte, von höherem Wert als die beiden anderen. Die wünsche ich mir in einen Kasten. Aber wahrhaftig, das ist leider unmöglich, dass Besitz und Ansehen vor der Welt und dazu noch Gnade bei Gott zusammen in ein Herz kommen. Weg und Steg sind ihnen verlegt: Treulosigkeit lauert im Hinterhalt, Gewalttat treibt Straßenraub; Frieden und Recht sind todwund. Die drei haben keinen Geleitschutz, wenn Friede und Recht nicht vorher genesen.“

Lange beschäftigt ihn die Frage, wie diese drei Schätze gewonnen werden können, nach denen sich die Menschen seiner Zeit sehnen.

In einem seiner ältesten politischen Gedichte empfiehlt Walther „gotes hulde, êre und gout“ (Gottes Huld, Ehre und Gut) und als moralischen Grundsatz für Kaiser rät er: „frume, gotes hulde und werltlich êre“ (Rechtschaffenheit, Gottes Huld und weltliche Ehre). So sollten Gottes Huld und Ehre das menschliche Handeln leiten. Die Ehre bezeichnet er als Tugend und Schmuck dieser Welt, insbesondere des Ritterstandes. Der Dichter orientiert sein Handeln an diesen Werten. Denn Besitz ohne die rechte Gesinnung, ohne Ehre und Gottvertrauen berge die Gefahr von Schande und Sünde.

Ritter Gerhard Atze erschießt das Ross

Viele seiner Erlebnisse sind über Lieder und Gedichte bis heute präsent. Bei einem Zusammentreffen mit einem Ritter gerät Walthers ausgeprägter Sinn für Recht und Ordnung gehörig aus dem Gleichgewicht. Denn mehr noch als seine Armut schmerzen ihn Ungerechtigkeit und Missachtung.

Aus dem „Spottlied auf den treulosen Ritter Atze“ lässt sich eine Begebenheit um das Jahr 1207 rekonstruieren. Der auf der Wartburg lebende Ritter Atze kreuzt bei Eisenach Walthers Weg. Ein Knall erschallt und das Pferd des Sängers fällt tot um.

Zur Rede gestellt, erklärt der aufgebrachte Ritter, dass dem Pferd recht geschehen sei, da es doch die Schuld daran trägt, dass er zum Krüppel geworden ist. Warum? Was für eine Frage! Ein Pferd habe ihm den Finger abgebissen. Was das mit Walthers Pferd zu tun habe? Das sei doch klar: Blutsverwandt waren die Tiere! Auf Walthers Schadenersatzforderung reagiert der Ritter uneinsichtig und der Sänger war um seinen kostbaren, überlebensnotwendigen Besitz betrogen.

In der Erwartung, die neuesten Nachrichten wie von einem modernen Zeitungsreporter überbracht zu bekommen, versammelten sich kurz darauf Ritter und edle Damen des Thüringer Hofes auf der Wartburg. Walther überrascht seine Zuhörer, indem er ihnen vorträgt, was ihm persönlich unter den Nägeln brennt: „Mir hat Herr Gerhard Atze in Eisenach ein Ross erschossen …“ Er erhebt Anklage und fordert den Landgrafen auf, seiner Pflicht Recht zu sprechen, nachzukommen.

Doch Atze kommt ungeschoren davon. Walther wird das Recht auf Schadensersatz versagt und er erlebt wieder einmal, wie hart ihm das Leben mitspielt. Was nützen Beifall und Ruhm, wenn er doch immer wieder wie ein armer Bettler an seinen Lohn erinnern muss und auf die Gnade der Mächtigen angewiesen bleibt?

„Ich habe mein Lehen!“

Etwa sechs Jahre nach dem Streit mit Ritter Atze fand Walther in Friedrich von Hohenstaufen einen Gönner, der seine Dienste besser zu schätzen wusste als andere Fürsten. Ein Jahr nachdem Friedrich von Hohenstaufen zum Kaiser gekrönt worden war, überließ er dem singenden Berichterstatter ein eigenes Gut als Lehen.

Als Lehensmann des Kaisers genoss Walther das Ansehen eines Ritters und hatte Anspruch auf kaiserlichen Rechtsschutz. Die Willkür eines Atze konnte ihm nichts mehr anhaben.

Walthers Wunsch, Hausherr zu sein und selbst Gäste zu begrüßen, ging endlich in Erfüllung. Das fortwährende Reisen, sein „Gauklerleben“ zwischen der Seine in Nordfrankreich, der Trave in Schleswig-Holstein, Ungarn und Oberitalien nahm ein Ende. Frostbeulen, angemessene Kleidung und regelmäßige Mahlzeiten – diese Sorgen gehörten nun der Vergangenheit an. 

Dieser Artikel von mir erschien erstmals in der Printausgabe der Epoch Times Ausgabe 80 vom 21.01.2023.